Péter Csunderlik
Dr. Péter Csunderlik (*1985) ist ungarischer Historiker, Assistenzprofessor an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikgeschichte (Budapest) und Junior Joint Budapest Fellow am IAS CEU (Januar–Juni 2024). In seiner Dissertation, die er 2016 an der Eötvös-Loránd-Universität verteidigte, wo er seit 2017 lehrt, befasste er sich mit der atheistischen, linksradikalen Studentenvereinigung Galileo-Kreis (Galilei Kör, 1908-1919). Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den rechts- und linksradikalen Bewegungen der Jahrhundertwende, der Geschichte und der Erinnerung an die Ungarische Räterepublik und der Geschichte der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert. 2023 war er mit einem Stipendium des US-Außenministeriums SUSI-Scholar an der University of Delaware. Er veröffentlichte Monografien zur Geschichte des Galileo-Kreises und zur Geschichte der Ungarischen Räterepublik. Bei seiner neuesten Publikation handelt es sich um die Biografie des ungarischen Historikers Péter Hanák, einem der „Gründerväter" der Central European University (CEU).
Antiwestlichkeit durch historische Traumata – die illiberale Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes
In meinem Vortrag möchte ich einen Überblick darüber geben, wie das illiberale Regime von Viktor Orbán eine Erinnerungspolitik betreibt, die Geschichte benutzt und missbraucht, um antiwestliche, autoritäre Bestrebungen zu legitimieren. Dabei werde ich beleuchten, wie die Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes von dem "kulturellen Trauma" (Jeffrey C. Alexander) profitiert, das die ungarische Gesellschaft durch die Auflösung Großungarns nach dem Ersten Weltkrieg, die zerstörerischen Ereignisse der Revolutionen 1918-1919 (einschließlich der Ungarischen Räterepublik) und den Vertrag von Trianon erlitten hat. Mit dem Vertrag von Trianon (1920) zwangen die westlichen Siegermächte des Ersten Weltkriegs Ungarn einen demütigenden Frieden auf, durch den es zwei Drittel seiner Gebiete verlor, was die ungarische Gesellschaft kollektiv traumatisierte. Während des konterrevolutionären Regimes von Admiral Miklós Horthy (1920-1944) bildete das "Trianon-Trauma" die Grundlage für eine rechtsgerichtete, revisionistische Politik und Irredenta-Kampagnen.

Seit 2010 reaktiviert das Orbán-Regime die konterrevolutionäre Erinnerungspolitik des Horthy-Regimes. Es werden "christlich-nationale", konterrevolutionäre Denkmäler aus der Zeit von 1920 bis 1944 wiedererrichtet, vor allem in der Nähe des ungarischen Parlaments. Auf dem Kossuth-Platz wurde die Zeit zurückgedreht (beispielhaft dafür: die Wiedererrichtung des Nationalen Märtyrerdenkmals im Jahr 2019 zum Gedenken an die "Opfer" des "roten Terrors" der Revolutionen von 1918 und 1919, das ursprünglich 1934 aufgestellt worden war), zudem wurde ein "brandneues" Trianon-Denkmal zur Hundertjahrfeier des Friedensvertrags von 1920 eingeweiht.

Wie schon die konservativen Historiker*innen des konterrevolutionären Horthy-Regimes bringt die Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes den Zerfall Großungarns nicht mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg in Verbindung, sondern mit dem – historisch falschen – „Verrat an Ungarn" durch die internationalistischen, linken Politiker (wie Mihály Károlyi, auch „roter Graf" genannt, dessen Denkmal 2012 vom Kossuth-Platz entfernt wurde), die 1918 an die Macht kamen und, so die Behauptung, „das Land verkauften" oder zumindest den Versprechen liberaler, westlicher Politiker*innen „naiv glaubten". Mit diesem propagandistischen Narrativ wurde die Linke als eine gefährliche Alternative zur Rechten diskreditiert.

Für das Orbán-Regime fungiert "Trianon" als Symbol einer Politik der historischen Kränkung, die sich für einen antiwestlichen Kurs einsetzen lässt. Orbáns antiwestliche und EU-feindliche Rhetorik profitiert dabei von der unter Ungarn verbreiteten Meinung, der Westen habe Ungarn stets verraten (sowohl 1920 als auch 1956, als der Westen den antisowjetischen Aufstand nicht unterstützte; zudem wird in einer revisionistischen Geschichtsschreibung Ungarn als ein Opfer Deutschlands im Zweiten Weltkrieg dargestellt) – und dies obwohl die Ungarn sich doch bis zur Flüchtlingskrise 2015 stets darum bemüht hätten, den Westen und das Christentum vor den Osmanen zu schützen. Dieser Logik zufolge hat der Westen die positive Rolle, die Ungarn für die europäische Geschichte gespielt hat, nie anerkannt.
Péter Csunderlik
Dr. Péter Csunderlik (*1985) ist ungarischer Historiker, Assistenzprofessor an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikgeschichte (Budapest) und Junior Joint Budapest Fellow am IAS CEU (Januar–Juni 2024). In seiner Dissertation, die er 2016 an der Eötvös-Loránd-Universität verteidigte, wo er seit 2017 lehrt, befasste er sich mit der atheistischen, linksradikalen Studentenvereinigung Galileo-Kreis (Galilei Kör, 1908-1919). Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den rechts- und linksradikalen Bewegungen der Jahrhundertwende, der Geschichte und der Erinnerung an die Ungarische Räterepublik und der Geschichte der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert. 2023 war er mit einem Stipendium des US-Außenministeriums SUSI-Scholar an der University of Delaware. Er veröffentlichte Monografien zur Geschichte des Galileo-Kreises und zur Geschichte der Ungarischen Räterepublik. Bei seiner neuesten Publikation handelt es sich um die Biografie des ungarischen Historikers Péter Hanák, einem der „Gründerväter" der Central European University (CEU).
Antiwestlichkeit durch historische Traumata – die illiberale Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes
In meinem Vortrag möchte ich einen Überblick darüber geben, wie das illiberale Regime von Viktor Orbán eine Erinnerungspolitik betreibt, die Geschichte benutzt und missbraucht, um antiwestliche, autoritäre Bestrebungen zu legitimieren. Dabei werde ich beleuchten, wie die Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes von dem "kulturellen Trauma" (Jeffrey C. Alexander) profitiert, das die ungarische Gesellschaft durch die Auflösung Großungarns nach dem Ersten Weltkrieg, die zerstörerischen Ereignisse der Revolutionen 1918-1919 (einschließlich der Ungarischen Räterepublik) und den Vertrag von Trianon erlitten hat. Mit dem Vertrag von Trianon (1920) zwangen die westlichen Siegermächte des Ersten Weltkriegs Ungarn einen demütigenden Frieden auf, durch den es zwei Drittel seiner Gebiete verlor, was die ungarische Gesellschaft kollektiv traumatisierte. Während des konterrevolutionären Regimes von Admiral Miklós Horthy (1920-1944) bildete das "Trianon-Trauma" die Grundlage für eine rechtsgerichtete, revisionistische Politik und Irredenta-Kampagnen.

Seit 2010 reaktiviert das Orbán-Regime die konterrevolutionäre Erinnerungspolitik des Horthy-Regimes. Es werden "christlich-nationale", konterrevolutionäre Denkmäler aus der Zeit von 1920 bis 1944 wiedererrichtet, vor allem in der Nähe des ungarischen Parlaments. Auf dem Kossuth-Platz wurde die Zeit zurückgedreht (beispielhaft dafür: die Wiedererrichtung des Nationalen Märtyrerdenkmals im Jahr 2019 zum Gedenken an die "Opfer" des "roten Terrors" der Revolutionen von 1918 und 1919, das ursprünglich 1934 aufgestellt worden war), zudem wurde ein "brandneues" Trianon-Denkmal zur Hundertjahrfeier des Friedensvertrags von 1920 eingeweiht.

Wie schon die konservativen Historiker*innen des konterrevolutionären Horthy-Regimes bringt die Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes den Zerfall Großungarns nicht mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg in Verbindung, sondern mit dem – historisch falschen – „Verrat an Ungarn" durch die internationalistischen, linken Politiker (wie Mihály Károlyi, auch „roter Graf" genannt, dessen Denkmal 2012 vom Kossuth-Platz entfernt wurde), die 1918 an die Macht kamen und, so die Behauptung, „das Land verkauften" oder zumindest den Versprechen liberaler, westlicher Politiker*innen „naiv glaubten". Mit diesem propagandistischen Narrativ wurde die Linke als eine gefährliche Alternative zur Rechten diskreditiert.

Für das Orbán-Regime fungiert "Trianon" als Symbol einer Politik der historischen Kränkung, die sich für einen antiwestlichen Kurs einsetzen lässt. Orbáns antiwestliche und EU-feindliche Rhetorik profitiert dabei von der unter Ungarn verbreiteten Meinung, der Westen habe Ungarn stets verraten (sowohl 1920 als auch 1956, als der Westen den antisowjetischen Aufstand nicht unterstützte; zudem wird in einer revisionistischen Geschichtsschreibung Ungarn als ein Opfer Deutschlands im Zweiten Weltkrieg dargestellt) – und dies obwohl die Ungarn sich doch bis zur Flüchtlingskrise 2015 stets darum bemüht hätten, den Westen und das Christentum vor den Osmanen zu schützen. Dieser Logik zufolge hat der Westen die positive Rolle, die Ungarn für die europäische Geschichte gespielt hat, nie anerkannt.