Nikolay Koposov

Professor an der School of History and Sociology am Georgia Institute of Technology
Zuvor lehrte er an der Emory University, der Johns Hopkins University, der Staatlichen Universität St. Petersburg und der École des hautes études en sciences sociales. Des Weiteren absolvierte er Gastaufenthalte an der Université Paris-IV, der Maison des sciences de l'homme, dem Collegium Budapest und dem Helsinki Collegium. In seiner Forschung befasst er sich unter anderem mit der Neueren Europäischen Geistesgeschichte, der Begriffsgeschichte und der Gedächtnisgeschichte. Er hat zehn Bücher veröffentlicht, darunter Memory Laws, Memory Wars: The Politics of the Past in Europe and Russia (Cambridge University Press, 2018), Pamyat' strogogo rezhima (NLO, 2011), und De l'imagination historique (Éditions de l'École des hautes études en sciences sociales 2009).
Von der kritischen Geschichte zum identitären Paradigma: Geschichtsschreibung im Zeitalter der Postfaktizität
Kritische Geschichte, am besten vertreten durch die französische Annales-Schule, entstand als ein Versuch, die nationale Vereinnahmung der Vergangenheit in Politik, Kultur und Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu überwinden und entwickelte sich im Kontext des sozial-liberalen Konsenses der Nachkriegszeit. Sie verband einen vorsichtigen epistemologischen Optimismus mit einem moderaten Kulturrelativismus, dem Glauben an eine universelle Natur des Menschen und einer Auffassung von Geschichte als einem relativ autonomen "Feld" intellektueller und sozialer Praktiken. Ich denke, dass dieser Ansatz, dem wir die bedeutendsten Errungenschaften der modernen Geschichtsschreibung verdanken, voll und ganz mit der liberalen Demokratie vereinbar ist.

Doch der Abbau des Sozialstaats, die postmoderne Infragestellung wissenschaftlicher Rationalität, das Erstarken des Neoliberalismus und des Populismus, die schwindende Autonomie der Forschung und der "Erinnerungsboom" des späten 20. Jahrhunderts führten zur Ablösung der kritischen Geschichte, zur Rückkehr einer unverhohlenen Politisierung der Vergangenheit und zur Entstehung eines neuen, identitären Paradigmas, dessen Hauptmerkmale Partikularismus, epistemologischer Relativismus und die Repolitisierung der Geschichte sind. Dies trug in der ganzen Welt zum Ausbruch von „Erinnerungskriegen" (memory wars) und in einigen Fällen zu Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit bei. Geschichte erwies sich wieder einmal als „das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat", wie Paul Valery 1931 schrieb. Meiner Meinung nach hängt die Zukunft der Geschichte entscheidend von der Stärkung ihrer Autonomie, ihrer Rekonzeptualisierung als Basis eines kritischen Denkens und der Wiederherstellung ihrer universalistischen Dimension ab.
Nikolay Koposov
Professor an der School of History and Sociology am Georgia Institute of Technology
Zuvor lehrte er an der Emory University, der Johns Hopkins University, der Staatlichen Universität St. Petersburg und der École des hautes études en sciences sociales. Des Weiteren absolvierte er Gastaufenthalte an der Université Paris-IV, der Maison des sciences de l'homme, dem Collegium Budapest und dem Helsinki Collegium. In seiner Forschung befasst er sich unter anderem mit der Neueren Europäischen Geistesgeschichte, der Begriffsgeschichte und der Gedächtnisgeschichte. Er hat zehn Bücher veröffentlicht, darunter Memory Laws, Memory Wars: The Politics of the Past in Europe and Russia (Cambridge University Press, 2018), Pamyat' strogogo rezhima (NLO, 2011), und De l'imagination historique (Éditions de l'École des hautes études en sciences sociales 2009).
Von der kritischen Geschichte zum identitären Paradigma: Geschichtsschreibung im Zeitalter der Postfaktizität
Kritische Geschichte, am besten vertreten durch die französische Annales-Schule, entstand als ein Versuch, die nationale Vereinnahmung der Vergangenheit in Politik, Kultur und Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu überwinden und entwickelte sich im Kontext des sozial-liberalen Konsenses der Nachkriegszeit. Sie verband einen vorsichtigen epistemologischen Optimismus mit einem moderaten Kulturrelativismus, dem Glauben an eine universelle Natur des Menschen und einer Auffassung von Geschichte als einem relativ autonomen "Feld" intellektueller und sozialer Praktiken. Ich denke, dass dieser Ansatz, dem wir die bedeutendsten Errungenschaften der modernen Geschichtsschreibung verdanken, voll und ganz mit der liberalen Demokratie vereinbar ist.

Doch der Abbau des Sozialstaats, die postmoderne Infragestellung wissenschaftlicher Rationalität, das Erstarken des Neoliberalismus und des Populismus, die schwindende Autonomie der Forschung und der "Erinnerungsboom" des späten 20. Jahrhunderts führten zur Ablösung der kritischen Geschichte, zur Rückkehr einer unverhohlenen Politisierung der Vergangenheit und zur Entstehung eines neuen, identitären Paradigmas, dessen Hauptmerkmale Partikularismus, epistemologischer Relativismus und die Repolitisierung der Geschichte sind. Dies trug in der ganzen Welt zum Ausbruch von „Erinnerungskriegen" (memory wars) und in einigen Fällen zu Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit bei. Geschichte erwies sich wieder einmal als „das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat", wie Paul Valery 1931 schrieb. Meiner Meinung nach hängt die Zukunft der Geschichte entscheidend von der Stärkung ihrer Autonomie, ihrer Rekonzeptualisierung als Basis eines kritischen Denkens und der Wiederherstellung ihrer universalistischen Dimension ab.