Nicolas Offenstadt

Nicolas Offenstadt ist Historiker und leitender Dozent (HDR) an der Universität Paris I. Er hat sich auf Memory studies spezialisiert, insbesondere zum Ersten Weltkrieg und zur DDR. Zu seinen Publikationen gehören Le Pays disparu. Sur les traces de la RDA (Stock, 2018, überarbeitete und ergänzte Neuauflage bei Gallimard 2019) und Urbex RDA (Albin Michel, 2019). Vor kurzem hat er einen Sammelband mit herausgegeben, der sich mit der Bedeutung des Ersten Weltkriegs beim Aufbau der DDR befasst: Das rote Erbe der Front. Der Erste Weltkrieg in der DDR (De Gruyter, 2022). Darüber hinaus arbeitet er zu Stadterkundung (urban exploration – Urbex) als Instrument für Geschichts- und Sozialwissenschaft (Urbex, Albin Michel, 2022).

Foto von Pierre-Jérôme Adjedj
Geschichte und Erinnerung an die DDR. Historiographische Debatten und politische Konflikte
Kritische Geschichtswissenschaft – am besten repräsentiert durch die französische Annales-Schule – ist als ein Versuch entstanden, die Nationalisierung der Vergangenheit zu überwinden, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Politik, Kultur und der Geschichtsschreibung betrieben wurde. Sie hat sich dann nach dem Krieg im Kontext des sozial-liberalen Konsensus voll entwickelt. Sie kombiniert einen behutsamen epistemologischen Optimismus mit einem gemäßigten kulturellen Relativismus, einem Glauben an die universelle Natur des Menschen und einem Verständnis von Geschichtswissenschaft als einem autonomen „Feld" intellektueller und sozialer Praktiken. Mir erscheint, dass dieses Modell, dem wir die bedeutendsten Leistungen der modernen Historiografie verdanken, vollauf zur liberalen Demokratie passt. Allerdings haben der Niedergang des Wohlfahrtsstaates, die postmodernen Herausforderungen in Bezug auf wissenschaftliche Rationalität, die Zunahme von Neoliberalismus und Populismus, die schrumpfende Autonomie des akademischen Bereichs und der „Memory-Boom" des späten 20. Jahrhunderts zu einer Desintegration kritischer Geschichtswissenschaft, einer Rückkehr von Formen ganz direkter Politisierung der Vergangenheit und zur Herausbildung eines neuen, auf Identität fixierten Paradigmas geführt. Dessen Hauptmerkmale sind Partikularismus, epistemologischer Relativismus und die Repolitisierung von Geschichte und Geschichtswissenschaft. Das hat weltweit zum Ausbruch von „Erinnerungskriegen" und in einigen Fällen zu massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Geschichtsschreibung hat wieder einmal bewiesen, dass es „das gefährlichste Produkt ist, das die Chemie des Intellekts entwickelt hat", wie es Paul Valéry 1931 ausdrückte. Die Zukunft der Geschichtswissenschaft wird – in einem Best-Case-Szenario – entscheidend davon abhängen, dass sie ihre Autonomie stärkt, sich als Fundament für kritisches Denken neu konzeptualisiert und ihre universalistische Dimension wiederherstellt.
Nicolas Offenstadt
Nicolas Offenstadt ist Historiker und leitender Dozent (HDR) an der Universität Paris I. Er hat sich auf Memory studies spezialisiert, insbesondere zum Ersten Weltkrieg und zur DDR. Zu seinen Publikationen gehören Le Pays disparu. Sur les traces de la RDA (Stock, 2018, überarbeitete und ergänzte Neuauflage bei Gallimard 2019) und Urbex RDA (Albin Michel, 2019). Vor kurzem hat er einen Sammelband mit herausgegeben, der sich mit der Bedeutung des Ersten Weltkriegs beim Aufbau der DDR befasst: Das rote Erbe der Front. Der Erste Weltkrieg in der DDR (De Gruyter, 2022). Darüber hinaus arbeitet er zu Stadterkundung (urban exploration – Urbex) als Instrument für Geschichts- und Sozialwissenschaft (Urbex, Albin Michel, 2022).

Foto von Pierre-Jérôme Adjedj
Geschichte und Erinnerung an die DDR. Historiographische Debatten und politische Konflikte
Kritische Geschichtswissenschaft – am besten repräsentiert durch die französische Annales-Schule – ist als ein Versuch entstanden, die Nationalisierung der Vergangenheit zu überwinden, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Politik, Kultur und der Geschichtsschreibung betrieben wurde. Sie hat sich dann nach dem Krieg im Kontext des sozial-liberalen Konsensus voll entwickelt. Sie kombiniert einen behutsamen epistemologischen Optimismus mit einem gemäßigten kulturellen Relativismus, einem Glauben an die universelle Natur des Menschen und einem Verständnis von Geschichtswissenschaft als einem autonomen „Feld" intellektueller und sozialer Praktiken. Mir erscheint, dass dieses Modell, dem wir die bedeutendsten Leistungen der modernen Historiografie verdanken, vollauf zur liberalen Demokratie passt. Allerdings haben der Niedergang des Wohlfahrtsstaates, die postmodernen Herausforderungen in Bezug auf wissenschaftliche Rationalität, die Zunahme von Neoliberalismus und Populismus, die schrumpfende Autonomie des akademischen Bereichs und der „Memory-Boom" des späten 20. Jahrhunderts zu einer Desintegration kritischer Geschichtswissenschaft, einer Rückkehr von Formen ganz direkter Politisierung der Vergangenheit und zur Herausbildung eines neuen, auf Identität fixierten Paradigmas geführt. Dessen Hauptmerkmale sind Partikularismus, epistemologischer Relativismus und die Repolitisierung von Geschichte und Geschichtswissenschaft. Das hat weltweit zum Ausbruch von „Erinnerungskriegen" und in einigen Fällen zu massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Geschichtsschreibung hat wieder einmal bewiesen, dass es „das gefährlichste Produkt ist, das die Chemie des Intellekts entwickelt hat", wie es Paul Valéry 1931 ausdrückte. Die Zukunft der Geschichtswissenschaft wird – in einem Best-Case-Szenario – entscheidend davon abhängen, dass sie ihre Autonomie stärkt, sich als Fundament für kritisches Denken neu konzeptualisiert und ihre universalistische Dimension wiederherstellt.