Nikita Petrov

Nikita Petrov ist stellvertretender Vorsitzender des Forschungs- und Informationszentrums Memorial. Zu seinen Publikationen gehören zahlreiche Bücher und Artikel (u.a. in der Novaja Gazeta), außerdem ist er Mitverfasser von Monografien über Geheimdienste und Repressionen in der Stalinzeit. Mit seiner Dissertation „Stalin und die Organe des NKWD-MGB bei der Sowjetisierung der Länder Mittel- und Osteuropas 1945–1953" wurde er an der Universität von Amsterdam promoviert.
MGB-General Sudoplatov: Mythologie zu einem Anti-Helden
Bis Anfang der 1990-er hatte ein breites Publikum noch nie etwas von Pavel Sudoplatov gehört, einem MGB-General der Stalinzeit, der verdeckte Operationen im Auftrag der Regierung durchführte, dazu gehörten vor allem Ermordungen politischer Gegner. Doch selbstverständlich ist Sudoplatovs berufliche Laufbahn vielseitiger und komplexer, und beschränkt sich nicht auf die Organisation von Attentaten.

In der Nachkriegszeit leitete er eine "Spezialeinheit" des MGB und war für Sabotageoperationen im Ausland und Repressalien im Inland zuständig. Dieser Teil seiner Biografie ist am wenigsten bekannt. Dennoch gibt es veröffentlichte Dokumente, die ein genaues Bild von der verdeckten Tätigkeit Sudoplatovs und seiner "Einheit" ermöglichen. Besonders relevant ist, dass seine gesamte Tätigkeit durch Stalins Anordnungen gerechtfertigt und theoretisch begründet wurde.

Sudoplatovs ruhmreiche Karriere nahm ein wenig ruhmreiches Ende. Nach dem Tod Stalins und dem Sturz Berias wurde er 1953 verhaftet, es folgten unzählige Verhöre. Nun interessierte es niemanden mehr, dass Sudoplatov seine Anweisungen zur Ausführung bestimmter Operationen von ganz oben erhalten hatte: Sie waren vom Politbüro, von Stalin, Molotov oder Chruščëv persönlich genehmigt worden. Jetzt war Sudoplatov nach eigener Aussage zu einem "unerwünschten Zeugen" geworden. Mit allen Mitteln versuchte er davonzukommen: Er täuschte psychische Krankheit vor, behinderte die Ermittlungen. Vielleicht hatte er dabei das Beispiel des legendären Revolutionärs Kamo vor Augen. Es gelang ihm jedenfalls der Todesstrafe zu entgehen, die ihm drohte.

Im Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 12.09.1958 heißt es, Sudoplatov habe "schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verübt, und unter anderem: "Das Labor, das eigens zur Durchführung von Menschenversuchen zur Testung von Giften eingerichtet wurde, unterstand von 1942 bis 1946 der Aufsicht Sudoplatovs und seines Stellvertreters Ejtingon, die auf Menschenversuche bestanden. Nach der Auflösung des Labors führten ehemalige Mitarbeiter auf Sudoplatovs Anweisung mehrere Menschenversuche mit einem neuen Giftstoff durch."

Er verbüßte seine gesamte Haftstrafe im Gefängnis Vladimirovka und kam 1968 frei. Nach der Entlassung widmete er sich dem Schreiben und kämpfte lange und beharrlich für seine Rehabilitierung. Dies lässt sich sehr gut anhand der Archivbestände des ZK KPSS (heute RGANI) rekonstruieren. Bis 1991 wurden sämtliche Anträge Sudoplatovs vom ZK und dem Komitee für Parteikontrolle abgelehnt. Erst 1992 wurden Sudoplatov und Ejtingon durch das Oberste Militärgericht rehabilitiert. Das Urteil wurde stark kritisiert. Zu jener Zeit war Sudoplatov häufig Thema in der Presse. Die Begründungen der vorherigen Ablehnungen und die plötzliche Rehabilitierung wurden viel diskutiert. In wenigen Jahren verwandelte sich der "Antiheld" in eine von Superlativen umrankte mythische Figur. Dafür war nicht zuletzt Sudoplatov selbst verantwortlich, der zwar gealtert war, aber sein Gespür für politische Trends nicht verloren hatte.

Weltweite Berühmtheit erlangte er durch die Veröffentlichung seiner Memoiren. Die meisten Menschen seines Berufs erinnerten sich nicht gern und schrieben nicht über sich, sie hatten zurecht Angst. Dass er es tat, lag an der Besonderheit der angebrochenen Epoche. Im August 1991 brach eine Zeit der Neubewertung der Vergangenheit an sowie einer ehrlichen Debatte über die Gründe für das Leid, das dem Volk zugefügt worden war. Also ging Sudoplatov, der sich von der Sowjetmacht beleidigt und bestraft sah, an die Öffentlichkeit. Zunächst publizierte er seine Memoiren in den USA (1994) und anschließend in Russland (1996). Das Buch sorgte für Furore. Und zwar nicht, weil er darin allerlei Details über die Arbeit der Geheimdienste in der Sowjetzeit und komplexe Wendepunkte seiner Lebensgeschichte bekanntmachte, welche die Leserschaft vermutet, aber nicht gekannt hatte. Der Neuigkeitswert der Memoiren bestand in etwas anderem: Der Leserschaft wurde erstmals ein präzise konstruiertes ideologisches System der Rechtfertigung einer Person unterbreitet, die in stalinistische Verbrechen involviert war. Selbstverständlich war Sudoplatov keine eigenständig handelnde, sondern eine ausführende Figur. Dennoch versteckte er sich nicht hinter der Formel "Ich habe nur Befehle ausgeführt", er griff an und fand Erklärungen weltumspannenden Ausmaßes. Die internationale Lage, der Kampf der Imperien um die Vorherrschaft, Stalin und die Welt – das sind laut Sudoplatov die treibenden Kräfte für den Ausbau und die Perfektionierung der sowjetischen Sicherheitsorgane. Dabei sei er bloß ein Rädchen im Getriebe, und letztlich ein "unerwünschter Zeuge" in diesem weltumspannenden Spiel. Zumindest präsentiert er sich so in seinen Memoiren.

Ja, etwas vereinfacht, aber genau so. Das Sowjetsystem schaffte es nach den Enthüllungen über Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU nicht, einen klaren und kontinuierlichen Kurs zur Überwindung der Rechtswillkür unter Stalin zu entwickeln, und schlimmer noch, es schaffte es auch nicht, die Vergangenheit ehrlich und eindeutig zu bewerten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erhält eine Analyse von Sudoplatovs Schicksal und Taten eine besondere Bedeutung und Aktualität. Sein Schicksal birgt den Schlüssel zum Verständnis der tiefliegenden Grundlagen des Sowjetsystems und des Rätsels Lösung für die Langlebigkeit bestimmter Stereotype und archaischer Vorstellungen über die Rolle der Geheimdienste in der Massenpsychologie.

Gerade heute, wenn Sudoplatov wieder gefragt ist als ein Symbol zur Rechtfertigung der verborgenen Tätigkeit von Menschen, "die zu Besonderem bestimmt" sind.
Nikita Petrov
Nikita Petrov ist stellvertretender Vorsitzender des Forschungs- und Informationszentrums Memorial. Zu seinen Publikationen gehören zahlreiche Bücher und Artikel (u.a. in der Novaja Gazeta), außerdem ist er Mitverfasser von Monografien über Geheimdienste und Repressionen in der Stalinzeit. Mit seiner Dissertation „Stalin und die Organe des NKWD-MGB bei der Sowjetisierung der Länder Mittel- und Osteuropas 1945–1953" wurde er an der Universität von Amsterdam promoviert.
MGB-General Sudoplatov: Mythologie zu einem Anti-Helden
Bis Anfang der 1990-er hatte ein breites Publikum noch nie etwas von Pavel Sudoplatov gehört, einem MGB-General der Stalinzeit, der verdeckte Operationen im Auftrag der Regierung durchführte, dazu gehörten vor allem Ermordungen politischer Gegner. Doch selbstverständlich ist Sudoplatovs berufliche Laufbahn vielseitiger und komplexer, und beschränkt sich nicht auf die Organisation von Attentaten.

In der Nachkriegszeit leitete er eine "Spezialeinheit" des MGB und war für Sabotageoperationen im Ausland und Repressalien im Inland zuständig. Dieser Teil seiner Biografie ist am wenigsten bekannt. Dennoch gibt es veröffentlichte Dokumente, die ein genaues Bild von der verdeckten Tätigkeit Sudoplatovs und seiner "Einheit" ermöglichen. Besonders relevant ist, dass seine gesamte Tätigkeit durch Stalins Anordnungen gerechtfertigt und theoretisch begründet wurde.

Sudoplatovs ruhmreiche Karriere nahm ein wenig ruhmreiches Ende. Nach dem Tod Stalins und dem Sturz Berias wurde er 1953 verhaftet, es folgten unzählige Verhöre. Nun interessierte es niemanden mehr, dass Sudoplatov seine Anweisungen zur Ausführung bestimmter Operationen von ganz oben erhalten hatte: Sie waren vom Politbüro, von Stalin, Molotov oder Chruščëv persönlich genehmigt worden. Jetzt war Sudoplatov nach eigener Aussage zu einem "unerwünschten Zeugen" geworden. Mit allen Mitteln versuchte er davonzukommen: Er täuschte psychische Krankheit vor, behinderte die Ermittlungen. Vielleicht hatte er dabei das Beispiel des legendären Revolutionärs Kamo vor Augen. Es gelang ihm jedenfalls der Todesstrafe zu entgehen, die ihm drohte.

Im Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 12.09.1958 heißt es, Sudoplatov habe "schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verübt, und unter anderem: "Das Labor, das eigens zur Durchführung von Menschenversuchen zur Testung von Giften eingerichtet wurde, unterstand von 1942 bis 1946 der Aufsicht Sudoplatovs und seines Stellvertreters Ejtingon, die auf Menschenversuche bestanden. Nach der Auflösung des Labors führten ehemalige Mitarbeiter auf Sudoplatovs Anweisung mehrere Menschenversuche mit einem neuen Giftstoff durch."

Er verbüßte seine gesamte Haftstrafe im Gefängnis Vladimirovka und kam 1968 frei. Nach der Entlassung widmete er sich dem Schreiben und kämpfte lange und beharrlich für seine Rehabilitierung. Dies lässt sich sehr gut anhand der Archivbestände des ZK KPSS (heute RGANI) rekonstruieren. Bis 1991 wurden sämtliche Anträge Sudoplatovs vom ZK und dem Komitee für Parteikontrolle abgelehnt. Erst 1992 wurden Sudoplatov und Ejtingon durch das Oberste Militärgericht rehabilitiert. Das Urteil wurde stark kritisiert. Zu jener Zeit war Sudoplatov häufig Thema in der Presse. Die Begründungen der vorherigen Ablehnungen und die plötzliche Rehabilitierung wurden viel diskutiert. In wenigen Jahren verwandelte sich der "Antiheld" in eine von Superlativen umrankte mythische Figur. Dafür war nicht zuletzt Sudoplatov selbst verantwortlich, der zwar gealtert war, aber sein Gespür für politische Trends nicht verloren hatte.

Weltweite Berühmtheit erlangte er durch die Veröffentlichung seiner Memoiren. Die meisten Menschen seines Berufs erinnerten sich nicht gern und schrieben nicht über sich, sie hatten zurecht Angst. Dass er es tat, lag an der Besonderheit der angebrochenen Epoche. Im August 1991 brach eine Zeit der Neubewertung der Vergangenheit an sowie einer ehrlichen Debatte über die Gründe für das Leid, das dem Volk zugefügt worden war. Also ging Sudoplatov, der sich von der Sowjetmacht beleidigt und bestraft sah, an die Öffentlichkeit. Zunächst publizierte er seine Memoiren in den USA (1994) und anschließend in Russland (1996). Das Buch sorgte für Furore. Und zwar nicht, weil er darin allerlei Details über die Arbeit der Geheimdienste in der Sowjetzeit und komplexe Wendepunkte seiner Lebensgeschichte bekanntmachte, welche die Leserschaft vermutet, aber nicht gekannt hatte. Der Neuigkeitswert der Memoiren bestand in etwas anderem: Der Leserschaft wurde erstmals ein präzise konstruiertes ideologisches System der Rechtfertigung einer Person unterbreitet, die in stalinistische Verbrechen involviert war. Selbstverständlich war Sudoplatov keine eigenständig handelnde, sondern eine ausführende Figur. Dennoch versteckte er sich nicht hinter der Formel "Ich habe nur Befehle ausgeführt", er griff an und fand Erklärungen weltumspannenden Ausmaßes. Die internationale Lage, der Kampf der Imperien um die Vorherrschaft, Stalin und die Welt – das sind laut Sudoplatov die treibenden Kräfte für den Ausbau und die Perfektionierung der sowjetischen Sicherheitsorgane. Dabei sei er bloß ein Rädchen im Getriebe, und letztlich ein "unerwünschter Zeuge" in diesem weltumspannenden Spiel. Zumindest präsentiert er sich so in seinen Memoiren.

Ja, etwas vereinfacht, aber genau so. Das Sowjetsystem schaffte es nach den Enthüllungen über Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU nicht, einen klaren und kontinuierlichen Kurs zur Überwindung der Rechtswillkür unter Stalin zu entwickeln, und schlimmer noch, es schaffte es auch nicht, die Vergangenheit ehrlich und eindeutig zu bewerten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erhält eine Analyse von Sudoplatovs Schicksal und Taten eine besondere Bedeutung und Aktualität. Sein Schicksal birgt den Schlüssel zum Verständnis der tiefliegenden Grundlagen des Sowjetsystems und des Rätsels Lösung für die Langlebigkeit bestimmter Stereotype und archaischer Vorstellungen über die Rolle der Geheimdienste in der Massenpsychologie.

Gerade heute, wenn Sudoplatov wieder gefragt ist als ein Symbol zur Rechtfertigung der verborgenen Tätigkeit von Menschen, "die zu Besonderem bestimmt" sind.