Iryna Ramanava
Iryna Ramanawa wurde am Institut für Geschichte der belarussischen Akademie der Wissenschaften promoviert und ist derzeit Professorin für Geschichte an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität (Vilnius) sowie Leiterin des Zentrums für Belarus- und regionale Studien dieser Universität.

Ihre Forschung befasst sich mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Ära des Stalinismus und der Zeit danach sowie mit Erinnerungspolitik. Sie war Gastwissenschaftlerin am Institute of Slavic, East European and Eurasian Studies (Universität Kalifornien, Berkeley) und der Fondation Maison des Sciences de l'homme (L'ecole hautes etudes de sciences sociales, Paris). Darüber hinaus war sie Gastprofessorin am Centre et le Département d'histoire Sciences Po (Paris) sowie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen (2021-2024).
"Der Völkermord an Belarussen": ein nützliches Konzept für das Regime
Am 7. April 2021 eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Belarus ein Verfahren wegen Genozids an der belarussischen Bevölkerung durch Massenmord und die Zerstörung ihrer Siedlungen, die Deportation zur Zwangsarbeit sowie die Errichtung von Konzentrations- und Todeslagern während des Zweiten Weltkrieges (bzw. des „Großen Vaterländischen Krieges", wie er in Belarus und Russland immer noch genannt wird). Im Land begann eine großangelegte Befragung von Zeugen. Generalstaatsanwalt Andrej Schwed wurde zu einem der größten Sprecher und Akteure der Erinnerungspolitik und leitete in der Tat dieses Vorgehen. Ergebnis dieser Ermittlungen sollte ein Gesuch an internationale Organisationen werden, damit diese den Genozid an der belarussischen Bevölkerung anerkennen.

Das wirft Fragen auf: Was war der Grund, dass die Behörden nach fast 80 Jahren ein Update der Folgen des Zweiten Weltkriegs für Belarus vornehmen? Inwieweit stützen sich die neuen Ermittlungen zum materiellen Schaden und der Anzahl der Opfer auf Materialien und Ansätze aus früherer Zeit, und was wäre etwas Neues? Warum wurde das Konzept des Völkermordes gerade jetzt aufgegriffen und wie setzten die Behörden dieses Konzept ein? Wer gehört bei diesem Konzept zur „belarussischen" Bevölkerung? Wie wird das Thema Holocaust in Belarus präsent sein? Und das angesichts des Umstandes, dass es bislang nur im Rahmen europäischer Projekte in den öffentlichen Raum gelangte, was jetzt gar nicht mehr möglich ist.

Einerseits kann die Eröffnung des Strafverfahrens 2022 als Versuch offizieller Stellen in Belarus erklärt werden, auf die Situation des Regimes international wie im Innern zu reagieren (Konfrontation mit dem Westen, Massenproteste, Russlands Krieg gegen die Ukraine). Eine Anerkennung des Völkermords durch internationale Organisationen würde für die Regierung wohl einen moralischen Sieg über den Westen und dessen Sanktionen gegen das Regime bedeuten. Andererseits würden Parallelen zwischen jetzigen Regimegegner*innen und Kollaborateur*innen im Zweiten Weltkrieg es ermöglichen, die Gegner*innen, deren Symbole und die Protestbewegung an sich zu diskreditieren sowie Repressionen zu rechtfertigen. Es ist zweifellos auch ein Versuch, ideologische Argumente zu finden, damit sich die Belaruss*innen um das Regime sammeln.

Es bleiben dennoch Fragen: Die neuen Ermittlungen stützen sich weitgehend auf Materialien der sowjetischen Außerordentlichen Staatlichen Kommission (TschGK), die ihre Arbeit bereits während des Krieges aufgenommen und danach fortgeführt hatte. Die Forschung hat zurecht Zweifel an diesen Daten. Da die Arbeit der sowjetischen Kommission geheim war, kann den Ergebnissen nicht getraut werden. Andererseits können sie heute auch nicht von Forscher*innen geprüft werden, da diese zum einen nicht in das Verfahren involviert sind und zweitens in Streitfällen beschuldigt werden könnten, den Genozid am belarussischen Volk zu leugnen.
Iryna Ramanava
Iryna Ramanawa wurde am Institut für Geschichte der belarussischen Akademie der Wissenschaften promoviert und ist derzeit Professorin für Geschichte an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität (Vilnius) sowie Leiterin des Zentrums für Belarus- und regionale Studien dieser Universität.

Ihre Forschung befasst sich mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Ära des Stalinismus und der Zeit danach sowie mit Erinnerungspolitik. Sie war Gastwissenschaftlerin am Institute of Slavic, East European and Eurasian Studies (Universität Kalifornien, Berkeley) und der Fondation Maison des Sciences de l'homme (L'ecole hautes etudes de sciences sociales, Paris). Darüber hinaus war sie Gastprofessorin am Centre et le Département d'histoire Sciences Po (Paris) sowie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen (2021-2024).
"Der Völkermord an Belarussen": ein nützliches Konzept für das Regime
Am 7. April 2021 eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Belarus ein Verfahren wegen Genozids an der belarussischen Bevölkerung durch Massenmord und die Zerstörung ihrer Siedlungen, die Deportation zur Zwangsarbeit sowie die Errichtung von Konzentrations- und Todeslagern während des Zweiten Weltkrieges (bzw. des „Großen Vaterländischen Krieges", wie er in Belarus und Russland immer noch genannt wird). Im Land begann eine großangelegte Befragung von Zeugen. Generalstaatsanwalt Andrej Schwed wurde zu einem der größten Sprecher und Akteure der Erinnerungspolitik und leitete in der Tat dieses Vorgehen. Ergebnis dieser Ermittlungen sollte ein Gesuch an internationale Organisationen werden, damit diese den Genozid an der belarussischen Bevölkerung anerkennen.

Das wirft Fragen auf: Was war der Grund, dass die Behörden nach fast 80 Jahren ein Update der Folgen des Zweiten Weltkriegs für Belarus vornehmen? Inwieweit stützen sich die neuen Ermittlungen zum materiellen Schaden und der Anzahl der Opfer auf Materialien und Ansätze aus früherer Zeit, und was wäre etwas Neues? Warum wurde das Konzept des Völkermordes gerade jetzt aufgegriffen und wie setzten die Behörden dieses Konzept ein? Wer gehört bei diesem Konzept zur „belarussischen" Bevölkerung? Wie wird das Thema Holocaust in Belarus präsent sein? Und das angesichts des Umstandes, dass es bislang nur im Rahmen europäischer Projekte in den öffentlichen Raum gelangte, was jetzt gar nicht mehr möglich ist.

Einerseits kann die Eröffnung des Strafverfahrens 2022 als Versuch offizieller Stellen in Belarus erklärt werden, auf die Situation des Regimes international wie im Innern zu reagieren (Konfrontation mit dem Westen, Massenproteste, Russlands Krieg gegen die Ukraine). Eine Anerkennung des Völkermords durch internationale Organisationen würde für die Regierung wohl einen moralischen Sieg über den Westen und dessen Sanktionen gegen das Regime bedeuten. Andererseits würden Parallelen zwischen jetzigen Regimegegner*innen und Kollaborateur*innen im Zweiten Weltkrieg es ermöglichen, die Gegner*innen, deren Symbole und die Protestbewegung an sich zu diskreditieren sowie Repressionen zu rechtfertigen. Es ist zweifellos auch ein Versuch, ideologische Argumente zu finden, damit sich die Belaruss*innen um das Regime sammeln.

Es bleiben dennoch Fragen: Die neuen Ermittlungen stützen sich weitgehend auf Materialien der sowjetischen Außerordentlichen Staatlichen Kommission (TschGK), die ihre Arbeit bereits während des Krieges aufgenommen und danach fortgeführt hatte. Die Forschung hat zurecht Zweifel an diesen Daten. Da die Arbeit der sowjetischen Kommission geheim war, kann den Ergebnissen nicht getraut werden. Andererseits können sie heute auch nicht von Forscher*innen geprüft werden, da diese zum einen nicht in das Verfahren involviert sind und zweitens in Streitfällen beschuldigt werden könnten, den Genozid am belarussischen Volk zu leugnen.