Mariia Vasilevskaia

Soziologin, Leiterin der Forschungsabteilung der Menschenrechtsorganisation OWD-Info, Gründerin des Hannah- Arendt-Forschungszentrums
"Wissentlich falsche Informationen". Wie Gerichtsverfahren Erinnerungen an die Gegenwart konstruieren
Der Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation (der auch bekannt ist als der "Armee-Fake-Nachrichten- Artikel") schränkt die Meinungsfreiheit de facto in allen Bereichen ein, die die Streitkräfte der Russischen Föderation betreffen. Er wurde in der ersten Fassung am 25.03.2022 verabschiedet und führte bis März 2024 zu 118 Gerichtsurteilen. Da der Artikel keine Kriterien enthält, nach denen man die "wissentlich falschen Informationen" definieren könnte, deren Verbreitung er strafbar macht, wurde die Suche nach solchen Kriterien zur Aufgabe der rechtsanwendenden Behörden.

Da der Artikel nur einen Monat nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine in Kraft tritt, kann man annehmen, dass alle Beteiligten an Gerichtsprozessen: Richterinnen und Richter, Angeklagte, Rechtsanwälte, Zeugen und Experten der Verteidigung und der Anklage, etc. bei Gerichtsprozessen zu "Fake-Nachrichten" gezwungen waren, die Argumentation "von Grund auf" aufzubauen, ohne auf schon etablierte Praktiken zurückgreifen zu können.

In einer Situation, in der eine Aussage über die Streitkräfte der Russischen Föderation das Risiko birgt, strafrechtlich verfolgt zu werden, werden Anhörungen zu "Fake-Nachrichten-Artikel"-Fällen paradoxerweise geradezu zum letzten Ausdruck einer öffentlichen Diskussion zum Thema der russisch-ukrainischen Beziehungen. Öffentliche Diskussionen können wiederum eine "Erinnerung an die Gegenwart" prägen, d.h., historische Vorstellungen, auf Grund derer sich später die Erinnerung an die Vergangenheit gestaltet. In diesem Zusammenhang wird es wichtig, Fragen nachzugehen, wie genau Narrative über die Handlungen Russlands in der Ukraine konstruiert werden, die verschiedene Akteure während der "Fake-Nachrichten"- Gerichtsprozesse zum Ausdruck bringen. Welche Symbole und Heldenfiguren sind in diesen Narrativen enthalten und ist es möglich, die Quellen deren Entstehung nachzuverfolgen? Wodurch wird bedingt, auf welches Narrativ ein bestimmter Akteur des Gerichtsprozesses zurückgreift? Sind in den Äußerungen über die Kriegshandlungen, die vor Gericht gemacht werden, moralische Urteile enthalten, und auf welche Argumentationslogiken greifen sie zurück?

Um diese Fragen zu beantworten, luden wir mit Hilfe der von OWD-Info entwickelten Software "Gerichtsmonster" von der Internetseite des staatlichen automatisierten Systems "Justiz" ("GAS Justiz") die Materialien zu den Urteilen nach dem Artikel 207.3 herunter. Anschließend suchten wir Materialien aus, in denen die Texte der Urteile enthalten waren. Die so erhaltenen Texte (N=36) verschlüsselten wir manuell und analysierten sie anschließend im Hinblick auf narrative Muster wie die des Schuldigen und des Opfers, auf Begriffe, Symbole und andere diskursive Elemente sowie auf die öffentlich zugängliche Information über die Beteiligten am Prozess. Anschließend analysierten wir die moralischen Urteile, die in diesen Materialien enthalten waren, durch die Theorie der Gerechtigkeitsbegründung von L. Boltanski und L. Thévenot. Im vorliegenden Vortrag stellen wir die Ergebnisse dieses Mini-Forschungsprojekts vor.
Mariia Vasilevskaia
Soziologin, Leiterin der Forschungsabteilung der Menschenrechtsorganisation OWD-Info, Gründerin des Hannah- Arendt-Forschungszentrums
"Wissentlich falsche Informationen". Wie Gerichtsverfahren Erinnerungen an die Gegenwart konstruieren
Der Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation (der auch bekannt ist als der "Armee-Fake-Nachrichten- Artikel") schränkt die Meinungsfreiheit de facto in allen Bereichen ein, die die Streitkräfte der Russischen Föderation betreffen. Er wurde in der ersten Fassung am 25.03.2022 verabschiedet und führte bis März 2024 zu 118 Gerichtsurteilen. Da der Artikel keine Kriterien enthält, nach denen man die "wissentlich falschen Informationen" definieren könnte, deren Verbreitung er strafbar macht, wurde die Suche nach solchen Kriterien zur Aufgabe der rechtsanwendenden Behörden.

Da der Artikel nur einen Monat nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine in Kraft tritt, kann man annehmen, dass alle Beteiligten an Gerichtsprozessen: Richterinnen und Richter, Angeklagte, Rechtsanwälte, Zeugen und Experten der Verteidigung und der Anklage, etc. bei Gerichtsprozessen zu "Fake-Nachrichten" gezwungen waren, die Argumentation "von Grund auf" aufzubauen, ohne auf schon etablierte Praktiken zurückgreifen zu können.

In einer Situation, in der eine Aussage über die Streitkräfte der Russischen Föderation das Risiko birgt, strafrechtlich verfolgt zu werden, werden Anhörungen zu "Fake-Nachrichten-Artikel"-Fällen paradoxerweise geradezu zum letzten Ausdruck einer öffentlichen Diskussion zum Thema der russisch-ukrainischen Beziehungen. Öffentliche Diskussionen können wiederum eine "Erinnerung an die Gegenwart" prägen, d.h., historische Vorstellungen, auf Grund derer sich später die Erinnerung an die Vergangenheit gestaltet. In diesem Zusammenhang wird es wichtig, Fragen nachzugehen, wie genau Narrative über die Handlungen Russlands in der Ukraine konstruiert werden, die verschiedene Akteure während der "Fake-Nachrichten"- Gerichtsprozesse zum Ausdruck bringen. Welche Symbole und Heldenfiguren sind in diesen Narrativen enthalten und ist es möglich, die Quellen deren Entstehung nachzuverfolgen? Wodurch wird bedingt, auf welches Narrativ ein bestimmter Akteur des Gerichtsprozesses zurückgreift? Sind in den Äußerungen über die Kriegshandlungen, die vor Gericht gemacht werden, moralische Urteile enthalten, und auf welche Argumentationslogiken greifen sie zurück?

Um diese Fragen zu beantworten, luden wir mit Hilfe der von OWD-Info entwickelten Software "Gerichtsmonster" von der Internetseite des staatlichen automatisierten Systems "Justiz" ("GAS Justiz") die Materialien zu den Urteilen nach dem Artikel 207.3 herunter. Anschließend suchten wir Materialien aus, in denen die Texte der Urteile enthalten waren. Die so erhaltenen Texte (N=36) verschlüsselten wir manuell und analysierten sie anschließend im Hinblick auf narrative Muster wie die des Schuldigen und des Opfers, auf Begriffe, Symbole und andere diskursive Elemente sowie auf die öffentlich zugängliche Information über die Beteiligten am Prozess. Anschließend analysierten wir die moralischen Urteile, die in diesen Materialien enthalten waren, durch die Theorie der Gerechtigkeitsbegründung von L. Boltanski und L. Thévenot. Im vorliegenden Vortrag stellen wir die Ergebnisse dieses Mini-Forschungsprojekts vor.